St. Louis, [Nzingha] Guy: ‚Gedichte einer schönen Frau‘

Stammdaten

Autor*in

Nzingha Guy St. Louis (Klarname unbekannt)

Vollständiger Titel

Gedichte einer schönen Frau

Pseudonym

Guy St. Louis

Ersterscheinungsjahr

1983

Epoche

Postmoderne

Fassung §175

Bundesrepublik Deutschland, 1969-1994

Gattung

Lyrik

Biografisches

Nur wenige biografische Informationen sind bekannt. Nzingha Guy St. Louis wurde mutmaßlich in West-Berlin geboren und ist ein:e Schwarze:r Autor:in, Aktivist:in und Performance-Künstler:in. St. Louis’ Veröffentlichungen und Auftritte, die die eigene Identität reflektieren, waren in den 1980er Jahren Teil des subkulturellen Berlins, z.B. des feministisch-lesbischen Ladenlokals PELZE-multimedia in Berlin-Schöneberg. St. Louis gehörte Mitte der 1980er Jahre zum Freundschaftskreis um Audre Lorde und war wahrscheinlich als Mitglied bei ADEFRA aktiv. Nzingha Guy St. Louis lebte und arbeitete zuletzt im Schwarzwald (Arndt, Ofuatey-Alazard, 2011).

„[D]ie frühen anti-heteronormativen Positionierungen […], sind kennzeichnend für die feministische Strukturierung der Schwarzen rassismuskritischen Bewegung in Deutschland“

(Eggers, Mohamed, 2014, S. 61)

Inhalt

Die Gedichte dieses Gedichtbands sind nicht nur thematisch verbunden, sondern werden auch durch wiederkehrende Personen sowie Lebens- und Alltagserfahrungen miteinander verknüpft. Nzingha Guy St. Louis arbeitet vor allem mit autofiktionalen bzw. autobiografischen Elementen und eröffnet somit neue Gespräche über die Erfahrung lesbischer Schwarzer Frauen, die in der Veröffentlichungszeit in den 1980er Jahren sehr selten repräsentiert wurden.

Themen

  • Marginalisierung, insbesondere durch Rassismus und Sexismus, und Gesellschaftskritik
  • Identität und Lebenserfahrungen
  • Weibliche Homosexualität und ‚Lesbischsein‘
  • Liebe, Erotik und BDSM
  • Gewalt und Tod

Komposition

  • Der Gedichtband umfasst ca. 54 zumeist unbetitelte und oft nicht eindeutig voneinander abgrenzbare Gedichte. Darunter finden sich fünf englische Gedichte (S. 27, 63, 69, 77, 85), sechs kurze Gedichte, die mit den Silben „– notiz –“ beginnen und enden (S. 17, 23, 37, 75, 89, 101).
  • Zehn Gedichten waren bereits vorher in den Bänden Wo die Nacht den Tag umarmt und Hautfunkeln erschienen.
  • Besondere lyrische Merkmale sind die Aufhebung von Groß- und Kleinschreibung, das freie Versmaß, das Fehlen eines festen Metrums, zahlreiche Alliterationen, Enjambements und Absätze und die Nutzung von vulgär- und umgangssprachlichen Ausdrücken sowie der englischen Sprache.

Motive

Ansatzpunkte für die Lektüre

Die Gedichte einer schönen Frau von Guy St. Louis thematisieren den Zusammenhang von Lebensrealität und Identität. Insbesondere beleuchten sie die Erfahrungsbereiche intersektionaler Identität in ihrer Verschränkung: Frausein, Schwarzsein und Lesbisch-/Queer-Sein. Der Fokus liegt auf Beschreibungen des Alltags, der Sexualität und von Diskriminierungserfahrungen. Es lassen sich autobiografische und zeitgeschichtliche Bezüge feststellen.

 

Die Gedichte entstanden in den 1980er Jahren im Zusammenhang der Schwarzen Frauenbewegung in West-Berlin. Die Dichterin Audre Lorde spielte für St. Louis eine prägende Rolle (Robinet, 2023, S. 190f.). Angeregt von Lorde setzte St. Louis Poesie als Widerstandsinstrument ein (vgl. Lorde: Poetry is Not A Luxury (1985)) und eignet sich Sprache als Medium der Emanzipation und des Ausdrucks von kollektiver Identität an. Wie Lorde thematisiert St. Louis in der Lyrik nicht nur die Bedingungen der eigenen Identität, sondern reflektiert auch den antidiskriminierenden Aktivismus. So finden sich auch in St. Louis’ poetischer Praxis Motive der Lebensrealität und selbstbestimmte Narrative (vgl. Lorde: The Transformation of Silence into Language (1977)) (Bolaki & Broeck, 2015). Häufig erzählen die Gedichte als hart und schmerzlich empfundene Erfahrungen einer Figur oder des sprechenden Ichs im Arbeitsalltag. Sie thematisieren zum Beispiel das Miterleben von Todesangst, das Entweichen des Lebens (S. 21, 41, 71) und die Eintönigkeit des Pflegedienstes (S. 31, 42). Die gewagten sexuellen Fantasien, die in den Gedichten zum Ausdruck kommen, können als Suche nach einem Ausgleich für die ständig gleichen und unangenehmen Aufgaben der Pflege verstanden werden, die dem Ich zu schaffen machen.

 

Der Alltag des sprechenden Ichs ist von Einsamkeit und Angst geprägt (S. 62, 65, 103, 110, 115, 119). Obwohl das Ich selten allein ist, empfindet es beständige Angst davor, verlassen zu werden oder ‚nicht genug‘ zu sein. Die Konfrontation mit dem eigenen Anderssein in einer heteronormativen weißen Mehrheitsgesellschaft ist dauerhafter Begleiter im täglichen Leben des Ichs (S. 39, 58f., 85, 105ff.). Der autofiktionale Bezug zu St. Louis’ aktivistischem Engagement für die Rechte homosexueller Schwarzer Frauen ist unverkennbar.

 

Im Entstehungszeitraum der Gedichte gewann die Schwarze Bewegung an Einfluss in Form von Organisationen wie der Initiative Schwarzer Deutscher (ISD) und der Schwarzen Frauen in Deutschland (ADEFRA). Sie erkämpfte ein „feministische[s] Produktions- und Vertriebsnet[z] für Bücher und andere Medien“ (Robinet, 2023, S. 190) und aktivistische Cafés mit Angeboten für Veranstaltungen und Vernetzung. In solchen gemeinschaftlichen Räumen bewegte sich auch St. Louis und trat beispielsweise als Performance-Poet:in auf (Robinet, 2023, S. 191). „Mit den lyrischen Arbeiten und später den Gedichtbänden von Schwarzen Akteurinnen wie Guy Nzingha St. Louis, May Ayim, Ana Herrero Villamor und Raja Lubinetzki [wurden] neue literarische politische Räume eröffnet. Lebensrealitäten und Handlungszusammenhänge von Schwarzen Frauen [wurden] auf verschiedenen Ebenen einer größeren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Es [zeigte] sich eine Stimmen- und Perspektivenvielfalt, die prägend [wurde] für die Wissensproduktion der Schwarzen Community in Deutschland. Vor allem die frühen anti-heteronormativen Positionierungen in den lyrischen und performativen Arbeiten von Guy Nzingha St. Louis sind kennzeichnend für die feministische Strukturierung der Schwarzen rassismuskritischen Bewegung in Deutschland.“ (Eggers [Auma], Mohamed, 2014, S. 61)

 

St. Louis erwirkt exemplarisch für die Bewegung Sichtbarkeit für marginalisierte Perspektiven, indem die Gedichte „the many names of a woman“ (S. 27) illustrieren. St. Louis greift für die Community spezifische Themen wie die vielschichtige Beschreibung von weiblicher und lesbischer Identität (S. 15), Liebe (S. 55f.) und Sex (S. 33f.) aus Schwarzer (vgl. S. 117) Ich-Perspektive (vgl. S. 106) auf. Auch leben die Figuren in den Gedichten sexuelle Fantasien aus, die sonst tabuisiert werden (vgl. S. 33, 49f., 57ff., 73, 83, 113f.), nämlich die einvernehmlich als lustvoll erfahrene Erduldung und Zufügung von Schmerz (BDSM).

 

Die Gedichte thematisieren auch Erfahrungen von Queerfeindlichkeit, Rassismus und Sexismus (S. 106f., 111). Das lyrische Ich spricht mehrfach mit dem Pronomen „sie“ über ein Gegenüber und weist diesem normativ als weiblich assoziierte Körpermerkmale zu. Die Gedichte bilden häufig (lesbische) Zweierkonstellationen dieser Art ab und problematisieren sie, zum Beispiel unter dem Gesichtspunkt der Geschlechterrollen (S.15). Darüber hinaus üben die Gedichte Gesellschaftskritik aus einer marginalisierten Perspektive („einsamkeit“, S. 115; S. 105ff.). Oft begegnen Überschneidungen zwischen dem lyrischem Ich und Guy St. Louis hinsichtlich der Identitätsmerkmale und Haltungen. Zugleich repräsentieren sie den zeitgeschichtlichen Hintergrund ihrer Entstehung, nämlich die Schwarze Frauen- und Lesbenbewegung.

Bibliografische Angaben

Erstausgabe

St. Louis, [Nzingha] Guy: Gedichte einer schönen Frau. Berlin 1983.

Neudrucke

St. Louis, [Nzingha] Guy: Gedichte einer schönen Frau. Rastatt 1987.

Kritische Ausgabe

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Übersetzung

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Literaturrecherche

DNB am 03.07.2024, Google Scholar am 03.-07.07.2024, BDSL brachte keine Ergebnisse.

Das Literaturporträt entstand unter studentischer Mitarbeit von Cecilie Schoppe, Jimmy Bosch und David Bahr im Rahmen des von Janin Afken und Liesa Hellmann im Sommersemester 2024 veranstalteten Seminars Queer Reading. Methoden und Lektüren.