Gabriele Dietze, Elahe Haschemi Yekani, Beatrice Michaelis: ‚Seinsweisen oder Kategorien: Intersektionalität und ihre Methoden queeren‘

Stammdaten

Autor*in

Gabriele Dietze, Elahe Haschemi Yekani, Beatrice Michaelis

Vollständiger Titel

Modes of Being vs. Categories: Queering the tools of Intersectionality

Ersterscheinungsjahr

2018

Publikationsform

Aufsatz

Originalfassung

Erschienen in: Greta Olson, Daniel Hartley, Mirjam Horn-Schott und Leonie Schmidt (Hgg.): Beyond Gender: An Advanced Introduction to Futures of Feminist and Sexuality Studies. Abington/Oxon 2018, S. 117-136.

Deutsche Übersetzung 

Seinsweisen oder Kategorien: Intersektionalität und ihre Methoden queeren. In: Astrid Biele Mefebue, Andrea D. Bührmann und Sabine Grenz (Hgg.): Handbuch Intersektionalitätsforschung. Wiesbaden 2022, S. 111-130.

Coverbild 'Handbuch Intersektionalitätsforschung' von Gabriele Dietze, Elahe Haschemi Yekani, Beatrice Michaelis

Schlagworte

  • Dekonstruktion
  • Differenz
  • Identität
  • Intersektionalität
  • Postkolonialismus

Fragestellung

Welche Möglichkeiten und Probleme ergeben sich, wenn man den methodischen Ansatz der Intersektionalität auf die Queer Studies anwendet? Wie tragen die Methoden der Intersektionalität dazu bei, essentialistische Auffassungen von Identität zu vermeiden? Welche Alternativen bestehen zu essentialistischen Identitätskategorien?

Erkenntnisinteresse

Die Autorinnen nutzen queertheoretische Zugänge, um die methodischen Werkzeuge der Intersektionalitätsforschung zu schärfen. Sie stellen kategorialen Denkansätzen das postidentitäre und pluralistische Konzept der „Seinsweisen“ gegenüber und zeigen dessen Potenzial zur Analyse und Überwindung gesellschaftlicher Machtverhältnisse auf.

Kernthesen mit Belegstellen

Wenn die politische Handlungsfähigkeit an bestimmte identitätsbezogene Vorbedingungen geknüpft wird, dann laufen intersektionale Ansätze Gefahr, die bestehende Hegemonie normativer Identitäten zu stabilisieren, da die Identitäten marginalisierter Personen auf diese Weise lediglich im Verhältnis zur Norm, nämlich als Konformität oder Nonkonformität definiert werden und somit nur im bestehenden Wertesystem ihre Bedeutung erlangen. Sich als Abweichung von der Norm zu definieren, bedeutet paradoxerweise, die Norm zu forcieren.

„Gegenidentitäten [sind] noch immer an die Norm geknüpft, deren Existenz Voraussetzung für ihre erfolgreiche Annahme ist.“

(S. 117)

„Traditionell waren […] marginalisierte Subjekte zwischen zwei unangenehmen Möglichkeiten gefangen: der Assimilation in die dominante Kultur oder der militanten Ablehnung dieser Normen als Gegenidentifikation mit der dominanten Kultur.“

(S. 117)

„Die Verwendung des Begriffs Andere*r wiederum beruht auf der Vorstellung einer Norm, von der dieses vermeintlich monolithische Andere abweicht. Diese Norm selbst bleibt allerdings unerwähnt und unsichtbar.“

(S. 114, vgl. auch S. 120)

Die Setzung von Subjekten und Identitäten als mögliche Gegenstände des Wissens (vgl. S. 113) geht mit dem Problem der Essentialisierung und Hierarchisierung einher, die der Vielschichtigkeit der Identität des*der Einzelnen (dem ‚Selbst‘) nicht gerecht werden. Ein Beispiel hierfür ist die schier endlose Ausdifferenzierung distinkter Identitäten mit je eigenen Repräsentationsansprüchen.

„Der Wunsch, so präzise wie möglich distinkte Identitäten zu beschreiben, kann sich […] zu einer Art ‚Identitätsolympiade‘ entwickeln […]. Dabei werden immer mehr – und immer feiner unterschiedene – Identitäten beansprucht, die wiederum jeweils Einschluss und Teilhabe fordern.“

(S. 115)

„[Es] wurde Kritik daran laut, dass intersektionale Zugänge Binaritäten und – durch subtile Differenzierungen – immer neue Ausschlussformen stärken oder überhaupt erst erzeugen.“

(S. 112)

Ein intersektionales Werkzeug, mit dem Identitätskonstruktionen jenseits der Binarität ‚Assimilation oder Subversion‘ betrachtet werden können, ist die Disidentifikation nach José Esteban Muñoz. Disidentifikation macht in erster Linie nicht die (unterdrückten) Identitäten, sondern die identitätsstiftenden Normen, hierarchischen Strukturen und ihre Wirkmechanismen sichtbar. Nicht der*die Diskriminierte, sondern die Diskriminierungstruktur als solche wird fokussiert und dekonstruiert.

„So liest Muñoz den radikalen Drag […] als eine Form von Disidentifikation, die auf übertriebene Weise Diskriminierung zitiert und somit die dahinterliegende Norm gleichzeitig sichtbar macht und entnaturalisiert.“

(S. 117)

„Ungleichheitsbeziehungen und Diskriminierungsprozesse [können] weder durch Verweis auf das diskriminierte markierte Subjekt erklärt werden noch dadurch, dass Diskriminierung nur diesen Körpern allein zugeschoben wird.“

(S. 122)

Das Konzept der ‚Seinsweisen‘ wird als alternative Grundlage für intersektionale Ansätze anstelle der Kategorien ‚Subjekt/ivität‘, ‚Identität‘ und ‚Differenz‘ vorgeschlagen. Seinsweisen reflektieren, dass Diskriminierungserfahrungen räumlich und zeitlich kontextspezifisch sind; sie sollen es ermöglichen,  politische Gemeinsamkeiten zu fokussieren, statt Abgrenzungslogiken zu reproduzieren.

„Diese von uns ‚Seinsweisen‘ genannten Existenzformen beschreiben, übereinstimmend mit Muñoz’ Begrifflichkeit der ‚modes of being‘, Formen des Miteinander-Seins, die nicht auf einer identitären Logik, sondern vielmehr auf politischer Gemeinsamkeit beruhen. (S. 112f.)

„Solidarität entwertet vermeintlich unüberwindbare Unterschiede und hinterlässt nur Identitätsfragmente.“ (S. 116f.)

„Die Annahme, dass Kategorien notwendig seien, um der Welt Sinn zu geben, unterstreicht nur die Notwendigkeit einer Überarbeitung der analytischen Werkzeuge, mit denen Formen von Ungerechtigkeit als Seinsweisen statt als Resultat intersektionaler Raster begriffen werden können.“ (S. 122)

Negativität, etwa in Form der Ablehnung heteronormativer Zeitkonzepte, besitzt produktives Potenzial für den Bruch mit den bestehenden Machtverhältnissen.

„Hegemoniale Zeitlichkeit ist, ähnlich wie bzw. gemeinsam mit Räumlichkeit, in Hierarchien und Teleologien organisiert. […] Queere Zeitlichkeitsstudien bieten alternative Vorstellungen anderer Vergangenheiten, Gegenwarten und Zukünfte […].“ (S. 123)

„[Negative Affekte] können wirksame Widerstände gegenüber der Integration in Machtstrukturen, die kontinuierlich Andere diskriminieren, mit sich bringen.“

(S. 125)

Methodologie

Der Beitrag von Gabriele Dietze, Elahe Haschemi Yekani und Beatrice Michaelis mit dem Titel Seinsweisen oder Kategorien: Intersektionalität und ihre Methoden queeren (2018/2022) zielt auf eine queere Relektüre intersektionaler Ansätze im Hinblick auf ihre theoretischen Vorannahmen und methodischen Verfahrensweisen. Die Autorinnen schlagen als post-identitäre Alternative zu Identitätskategorien das Konzept der sogenannten „Seinsweisen“ vor, das sich von essentialistischen Zuschreibungen loslösen soll. Sie kritisieren Fehlerquellen bei der Anwendung der Analysemethoden der Intersektionalitätsforschung. (vgl. Dietze, Haschemi Yekani, Michaelis,  2022, S. 112f.) Zunächst werden die Möglichkeiten und Grenzen der etablierten „Kategorien des Selbst“, nämlich „Subjekt/Subjektivität, Identität und Differenz“, hinsichtlich der politischen Handlungsfähigkeit betrachtet. Das Dilemma der unvermeidlichen (Re-)Produktion von Marginalisierung, das im Prozess der Subjektivierung (verstanden als Hervorbringung eines Subjekts, das politische Repräsentation erfahren soll) entsteht, wurde bereits von Judith Butler beschrieben, die den hinderlichen „Zwang [erkannte], ein Subjekt des Feminismus zu konstruieren“. (Butler, 2020, S. 21)

Betrachtete Gegenstände

Matthew Warchus [Regie] (2014): Pride [Film], Großbritannien.

Literaturrecherche

30.06.2024, META/IDA

Das Methodenporträt entstand im Rahmen des von Janin Afken und Liesa Hellmann im Sommersemester 2024 veranstalteten Seminars Queer Reading. Methoden und Lektüren unter studentischer Mitarbeit von Aleyna Demir.