Haushofer, Marlen: ‚Eine Handvoll Leben‘

Stammdaten

Autor*in

Haushofer, Marlen

Vollständiger Titel

Eine Handvoll Leben

Pseudonym

Ersterscheinungsjahr

1955

Epoche

Nachkriegsliteratur

Fassung §175

Deutschland: § 175 (1935–1973).
Österreich: § 129Ib (1852–1971).
Der § 129Ib des österreichischen Strafgesetzbuchs diskriminierte im Gegensatz zum § 175 in Deutschland alle Arten von gleichgeschlechtlichen Beziehungen/Sexualkontakten, somit auch zwischen Frauen.

Gattung

Roman

Biografisches

Schreibmaschine von Marlen Haushofer, Exponat im Wilderermuseum Molln. Fotografiert von Elena Ternovaja. CC BY-SA 3.0 

Die österreichische Schriftstellerin Marlen Haushofer (geb. Marie Helene Frauendorfer) wurde 1920 in Frauenstein geboren und starb 1970 in Wien. Sie besuchte eine Klosterschule in Linz und studierte von 1940 bis 1945 Germanistik in Wien und Graz. Nach der Novelle Das fünfte Jahr (1952) war Eine Handvoll Leben (1955) ihre erste Romanveröffentlichung. Es folgten u.a. Die Tapetentür (1957), ihr erfolgreichster und später auch verfilmter Roman Die Wand (1963), Die Mansarde (1969) und eine Reihe von Erzählungen und Jugendbüchern. Obgleich Marlen Haushofer bereits zu Lebzeiten einige Literaturpreise erhielt, musste ihr Werk doch mehrmals wiederentdeckt werden, so etwa von Vertreter:innen der Zweiten Frauenbewegung, die die Kritik an patriarchalen Beziehungsformen als zentrales Thema im Werk Haushofers identifizierten. Marlen Haushofer war zweimal mit demselben Mann, dem Zahnarzt Manfred Haushofer, verheiratet und hatte zwei Söhne.

„Endlich erklärte Margot, die sich am besten ausdrücken konnte, es sei ganz einfach ungehörig, mehrere Freundinnen zu haben, sie müsse sich endlich für eine entscheiden, ihr treu bleiben und auch niemals wieder in eine andere Verbindung einbrechen und Unheil anrichten.“

(Haushofer, 2023, S. 89)

Inhalt

Eine Frau mit dem Namen Betty Russell besucht unter dem Vorwand eines Immobilienkaufes ihren Sohn Toni, den sie ebenso wie ihren Ehemann 20 Jahre zuvor fluchtartig verlassen hat. Der Sohn hält sie aufgrund eines vorgetäuschten Unfalls seit zwanzig Jahren für verstorben und erkennt sie nicht. Auch sonst bleibt Betty inkognito. Als sie bei ihrem Besuch im Haus ihres Sohnes übernachtet, stößt sie auf eine Schachtel mit alten Postkarten und Fotografien aus ihrer eigenen Vergangenheit. Diese Erinnerungsstücke dienen ihr als Anlass, eine Nacht lang ihr Leben Revue passieren zu lassen. Die somit angestoßenen etappenhaften Rückblicke auf ihre Biografie bilden die Binnenhandlung, die den größten Teil des Romans ausmacht. Sie beginnen mit neugierigen Streifzügen des vierjährigen „Lieserls“, worauf die Jugend „Elisabeths“ in einer Klosterschule folgt. Die Internatszeit prägen insbesondere die von Verliebtheit und Eifersucht geprägten Freundschaften zu den beiden ungleichen Mädchen Käthe und Margot. Gegen Ende der Schulzeit entwickelt Elisabeth zudem eine halb lust-, halb schmerzvolle Obsession zu ihrer Lehrerin Dr. Elvira. Die jugendliche Lebensphase endet mit dem Suizid der Freundin Margot, für den Elisabeth sich verantwortlich fühlt. Es folgen zwei Verlobungen Elisabeths und die Einrichtung im neuen Leben als Ehefrau und Mutter, das von einer nervenaufreibenden Affäre mit dem gefühlskalten Lenart begleitet wird. Den Schlusspunkt der erzählten Lebenserinnerungen bildet die schlagartige Flucht Elisabeths aus den einengenden familiären Verhältnissen durch einen vorgetäuschten Suizid. Der Verlauf der weiteren zwanzig Jahre ihres Lebens bleibt weitestgehend im Dunkeln. In der Rahmenhandlung verlässt Elisabeth ihren Sohn und andere alte Bekannte (darunter die ehemalige Schulfreundin Käthe, die die Rolle der Stiefmutter Tonis eingenommen hat) schließlich wieder, ohne ihre Identität offenbart zu haben.

Themen

  • Kontrast zwischen kindlichen und erwachsenen Wahrnehmungs- und Beziehungsformen: schleichende Entmystifizierung der Welt, innere Resignation und mit zunehmendem Alter Anpassung an patriarchale Beziehungsnormen
  • Lesbisch-queere Mädchenfreundschaften
  • Coming-of-Age, Entdeckung des eigenen Körpers und nicht-heteronormativen Begehrens
  • Existenzielle Einsamkeit, Fremdheit, Gefühl des Unverstandenseins und der Andersartigkeit
  • Radikale Ausbrüche aus normativen Lebensentwürfen: der Suizid Margots, die Flucht Elisabeths aus Ehe und Mutterschaft durch vorgetäuschten Unfall/Suizid
  • Eifersucht, Konflikte um Exklusivität/‚Treue‘ in Nahbeziehungen
  • Widerstreitende Bedürfnisse nach Autonomie vs. Geborgenheit, Angst vor Abhängigkeit und Vereinnahmung
  • Beziehungen mit Machtgefällen: Lehrerin-Schülerin, Chef-Angestellte, Mann-Frau
  • Depressionen, innere Leere

Komposition

In der Rahmenhandlung besucht die 45-jährige Betty Russell ihren Sohn und erinnert sich nachts anlässlich einzelner Fotos und Postkarten ihrer Vergangenheit. Die Binnenhandlung mit dem Lebensrückblick nimmt etwa vier Fünftel des Romans ein und verläuft etappenweise von der frühen Kindheit bis zum Ausbruch aus Ehe und Mutterschaft. Die nächtliche Erinnerungssituation der Rahmenhandlung wird wiederholt zwischengeschaltet. Die erinnerte Biografie erzählt eine Dreiteilung der Identität der Protagonistin, die durch die sich ablösenden Vornamen „Lieserl“ (junges Mädchen), „Elisabeth“ (Schulmädchen und junge Erwachsene) und „Betty“ (erinnernde Frau der Rahmenhandlung) markiert werden. Zu Beginn und zum Schluss der Rahmenhandlung wird Bettys Sohn Toni intern fokalisiert, ansonsten herrscht in der Rahmen- und Binnenhandlung eine Mitsicht auf die Protagonistin und ihre Gedanken.

Motive

Ansatzpunkte für die Lektüre

Den Ausgangspunkt einer queeren Lektüre von Marlen Haushofers Eine Handvoll Leben können die queeren Jugendbeziehungen der Protagonistin bilden. Diese entfalten eine komplexe Eigenlogik, die es verdient, nicht bloß als Ausdruck eines „törichten Backfischalters“ (S. 93) oder einer irrealen „Mädchentraumwelt“ (S. 152) abgetan zu werden.

 

In den Rückblicken der Protagonistin Elisabeth, die sich in der Rahmenerzählung Betty Russel nennt, zeigt sich ein Kontrast zwischen den intensiven Nahbeziehungen ihrer Jugend und den Beziehungen ihres jungen Erwachsenenalters. Besonders auffällig ist, dass die Mädchenfreundschaften ihrer Schulzeit und die Spannung zwischen Elisabeth und ihrer Lehrerin Dr. Elvira von einer deutlich stärkeren emotionale Intensität, einer tieferen seelisch-intellektuellen Verbundenheit und einem als positiver empfundenen Begehren geprägt sind als die späteren ehelichen und außerehelichen (Liebes-)Beziehungen der erwachsenen Elisabeth.

Bibliografische Angaben

Erstausgabe

1955 beim Paul-Zsolnay-Verlag in Wien

Neudrucke

[Auswahl]

  1. 1970 beim Zsolnay-Verlag
  2. 1984 beim Zsolnay-Verlag
  3. 1985 bei der Buchgemeinschaft Donauland
  4. 1985 bei Droemer Knaur
  5. 1991 beim Deutschen Taschenbuchverlag
  6. 1997 beim Zsolnay-Verlag
  7. 2004 beim Deutschen Taschenbuchverlag
  8. 2023 beim Claassen-Verlag

Kritische Ausgabe

Übersetzung

Spanisch: „Un punado de vida“ (2005)
Französisch: „Une poignée de vies“ (2020)

[weitere möglich]

Literaturrecherche

BDSL am 09.09.24, Google Scholar am 09.09.24, diverse weitere Recherchen

Das Porträt wurde von Paola Rigi-Luperti, studentische Mitarbeiterin der Forschungsstelle Kulturgeschichte der Sexualität, erstellt.