Brecht, Bertolt: ‚Im Dickicht der Städte. Der Kampf zweier Männer in der Riesenstadt Chicago‘
Stammdaten
Autor*in
Brecht, Bertolt
Vollständiger Titel
Im Dickicht der Städte. Der Kampf zweier Männer in der Riesenstadt Chicago
Pseudonym
/
Ersterscheinungsjahr
- Vorläufiger Abschluss 1921, unveröffentlicht
- Uraufführung 1923 im Residenz-Theater München
- Überarbeitung, Erstdruck 1927
Epoche
Weimarer Republik
Fassung §175
1872-1935
Gattung
Theaterstück
Biografisches

Bertolt Brecht wurde 1898 in Augsburg geboren. Er war Dramatiker, Librettist, Lyriker und Prosaschriftsteller. Als überzeugter Kommunist verfasste er Werke mit stark politischer Ausrichtung, außerdem führte er einflussreiche ästhetische Konzepte wie das ‚dialektische Theater‘ oder den ‚Verfremdungseffekt‘ ein. 1933 emigrierte er aus Berlin und war während der NS-Zeit in Dänemark, Schweden, Paris, und den USA aktiv – nach dem Krieg in Zürich und Ost-Berlin; dort starb er 1956.
Inhalt
Mit einem grundlosen Streit beginnt die Verstrickung der Männer George Garga und Shlink. Der ältere, malaiische Holzhändler Shlink unterwirft sich dem jungen, unter prekären Umständen lebenden Weißen Garga bedingungslos, überlässt ihm seinen gesamten Besitz und die Verfügungsgewalt über seine ganze Existenz. Er wird zudem von Gargas Eltern aufgenommen und unterstützt die Familie finanziell. Eine Weile lässt Garga sich auf dieses Verhältnis ein, welches die Männer als ‚Kampf‘ bezeichnen, dann beendet er es. Er heiratet seine Freundin Jane und versucht erfolglos, seine Schwester Marie und Shlink zu einer gemeinsamen Heirat zu bewegen. Aufgrund krimineller Geschäfte gelangt Garga für drei Jahre ins Gefängnis. Als er zurückkehrt, versucht er Shlink mit allen Mitteln von sich fern zu halten. Als dieser ihn jedoch aufsucht, nehmen die beiden sofort wieder ihre enge Beziehung zueinander auf. Shlink gesteht Garga seine Liebe, Garga reagiert darauf mit Ekel und trennt sich ein zweites Mal von Shlink, welcher sich kurz darauf suizidiert. Garga verlässt seine Familie in Chicago und zieht alleine nach New York.
Themen
- Dominanz und Unterwerfung, asymmetrische Beziehungen
- Erwachen des eigenen Begehrens vs. Anpassung an soziale Erwartungen
- Verunsicherung binärer Logiken (passiv/aktiv, machtvoll/machtlos, männlich/weiblich, Lust/Schmerz)
- Dysfunktionale Familienstrukturen, Scheitern der heteronormativen Ordnung
- Einsamkeit, Vereinzelung in der Großstadt
Komposition
- 10 Szenen, jeweils mit Ortwechsel
Motive
„Von heute ab, Mr. Garga, lege ich mein Geschick in Ihre Hände. […] Von heute ab bin ich Ihre Kreatur. Jeder Blick Ihrer Augen wird mich beunruhigen. Jeder ihrer Wünsche, auch der unbekannteste, wird mich willfährig finden. Ihre Sorge ist meine Sorge, meine Kraft wird die Ihre sein. Meine Gefühle werden nur Ihnen gewidmet, und Sie werden böse sein.“ (S. 67)
„GARGA: […] Ich spuckte ihm ins Gesicht: viele Male. Er schluckt es. Ich verachte ihn. Es ist aus.“ (S. 69)
„GARGA: Sie sind einsam geblieben? SHLINK: Vierzig Jahre. GARGA: Jetzt, gegen Ende, verfallen Sie also der schwarzen Sucht des Planeten, Fühlung zu bekommen.“ (S. 86)
„SHLINK: Die unendliche Vereinzelung des Menschen macht eine Feindschaft zum unerreichbaren Ziel. Aber auch mit den Tieren ist eine Verständigung nicht möglich.“ (S. 86)
„GARGA […]: Allein sein ist eine gute Sache. Das Chaos ist aufgebraucht. Es war die beste Zeit.“ (S. 89)
„JOHN: Es hat sich hier etwas begeben, worüber sich schlecht reden läßt.“ (S. 70)
„MAË: Warum sagst du nichts, George? […] Ihr sagt: Wartet etwas, ihr geht fort, ihr kommt zurück, und man kennt euch nicht wieder, und wir wissen nicht, was ihr mit euch gemacht habt. […]“ (S. 80)
„JOHN: […] Ich habe nicht gefragt, was zwischen euch beiden vorgefallen ist, ich war immer sicher, daß es Schmutz ist. […]“ (S. 80)
„SHLINK: Sie nehmen den Kampf auf? GARGA: Ja! Natürlich unverbindlich.“ (S. 67)
„GARGA: […] Sind wir nicht drei Wochen hier gelegen? Wir dachten, der Planet verließe seine Bahn darüber. […] Shlink, ich beende jetzt unsern Kampf, in seinem dritten Jahr, hier im Gehölz des Michigansees […]“ (S. 87)
MAË: Sage mir doch, was dich krank macht. GARGA: Du kannst mir nicht helfen.“ (S. 71)
„MARIE: Seit wann haben Sie diese Krankheit? SHLINK: Seit meiner Jugend auf den Ruderbooten auf dem Jangtsekiang. […]“ (S. 73)
„JANE (steht auf): Was hast du, George? Hast du Fieber? GARGA: Es ist mir wohl im Fieber, Jane.“ (S. 79)
„DER WURM: Ich sage immer: dem Leben ins Weiße im Auge gesehen!“ (S. 65)
„SHLINK: […] es ist mir ein Bedürfnis, Sie mit Ihren Neigungen bekannt zu machen.“ (S. 76)
„MAYNES: Sie sind entlassen! SHLINK: Ihre wirtschaftliche Existenz! Beachten Sie Ihre Plattform! Sie schwankt! GARGA: Das ist die Freiheit. […]“ (S. 66)
„SHLINK: Vierzig Jahre sind für schmutzig befunden, und es wird eine große Freiheit sein.“ (S. 80)
„GARGA: Ich bitte dich, mit mir nach dem Süden zu gehen. […] Ich brauche dich notwendig.“ (S. 71)
„GARGA: […] ich habe mich entschlossen, ins Gefängnis zu gehen.“ (S. 80)
„GARGA: Ich verkaufe Ihnen die Ansichten von Mr. J. V. Jensen und Mr. Arthur Rimbaud, aber ich verkaufe Ihnen nicht meine Ansicht darüber.“ (S. 63)
„GARGA (im Schlafraum): ‚Ich nenne ihn meinen höllischen Gemahl in meinen Träumen‘, Shlink, den Hund. ‚Wir sind von Tisch und Bett geschieden, er hat keine Kammer mehr. Sein Bräutchen raucht Virginias und verdient sich was in die Strümpfe.‘ Das bin ich! (Lacht.)“ (S. 74)
Zitiert wird die Fassung von 1927 nach folgender Ausgabe: Die Stücke von Bertolt Brecht in einem Band. Suhrkamp: Frankfurt am Main, 1978.
Ansatzpunkte für die Lektüre
Die Beziehung zwischen Garga und Shlink ist durch eine komplexe Verhandlung von Machtpositionen gekennzeichnet. Zum einen gehen sie ausdrücklich einen ‚Kampf‘ ein: „SHLINK: Sie nehmen den Kampf auf? GARGA: Ja! Natürlich unverbindlich“ (S. 67). Entgegen der Erwartung, dass in einem Kampf beide Beteiligte versuchen, den jeweils anderen zu dominieren, vollzieht Shlink jedoch gleich zu Beginn eine radikale Selbstunterwerfung: „Von heute ab, Mr. Garga, lege ich mein Geschick in Ihre Hände. […] Von heute ab bin ich Ihre Kreatur. […]“ (S. 67). Shlink befolgt nun tatsächlich alle Befehle Gargas, so sehr sie ihm auch selbst schaden. Dieses Verhalten unterwandert die simple Unterwerfungslogik eines patriarchalen Machtkampfes und verunsichert Garga zunehmend: Indem er sich Shlink gegenüber dominant verhält, folgt er erstens ganz den von Shlink festgelegten ‚Spielregeln‘, zweitens kann er seine Überlegenheit nicht unter Beweis stellen, da Shlink diese überhaupt nicht herausfordert, und drittens scheint Shlink aus der unterwürfigen Rolle Lust zu ziehen, weshalb Garga ihn nicht demütigen kann, ohne ihm gleichzeitig einen Dienst zu erweisen: „GARGA: […] Ich lache über Sie! […] SHLINK (folgt ihm): Lachen Sie, ich liebe Ihr Lachen. Ihr Lachen ist meine Sonne […]“ (S. 75).
Die Uneindeutigkeit der eigentlichen Machtverteilung wird unter anderem von Gargas Schwester Marie angesprochen: „Ich denke, du bist blind, daß du nicht siehst, wie du unterliegst“ (S. 69). Als Garga sein Verhältnis zu Shlink schließlich beendet, stellt er dies als Kapitulation dar: „GARGA: Ich gebe aber auf. Ich streike. Ich werfe das Handtuch. Habe ich mich denn in Sie so verbissen? […]“ (S. 75). Diese Aussage zeigt, auf welcher Ebene sich der Kampf noch bewegt: Während Shlink Garga ausdrücklich zum Zentrum (zur „Sonne“) seiner Welt macht, wehrt Garga sich gegen sein eigenes Begehren nach Shlink (seine ‚Verbissenheit‘). Dieses Begehren und die Beziehung als Ganzes sind eindeutig auch erotisch konnotiert: „GARGA (im Schlafraum): ‚Ich nenne ihn meinen höllischen Gemahl in meinen Träumen‘, Shlink, den Hund. […]“ (S. 74). Auch die doppeldeutigen Kommentare anderer Figuren („MANKY: […] Sie sagen, er habe etwas mit einem Gelbhäutigen […]“, S. 70) verstärken diesen Eindruck. Was Garga in dem Kampf trotz seiner vordergründigen Machtposition zu verlieren hat, ist also (im Vokabular des Stücks) seine ‚Unschuld‘, d.h. die Unkenntnis über sein eigenes Begehren. Shlink macht seine Absicht, Garga mit diesem Begehren zu konfrontieren, explizit: „SHLINK: […] es ist mir ein Bedürfnis, Sie mit Ihren Neigungen bekannt zu machen“ (S. 76).
Diese Neigungen sind für Garga deswegen problematisch, da sie seinen heteronormativen Lebensentwurf sowie seine hegemonial männliche Identität in Frage stellen. Zum Tabu der gleichgeschlechtlichen Beziehung kommen auch noch der Altersunterschied, die ethnische Differenz und das Tabu des lustvollen Machtgefälles hinzu. Garga versucht sich Shlink daher durch eine überstürzte Heirat mit Jane zu entziehen: „GARGA: […] Leider ist für Sie momentan kein Stuhl frei, Shlink. […] Es ist angenehm, ich wünsche meine Abende in dieser meiner Familie zu verbringen. Ich bin in ein neues Lebensalter getreten. […]“ (S. 79). Diese Flucht in das heteronormative Familienglück scheitert jedoch. Zum einen wird die Ehe durch einen dreijährigen Gefängnisaufenthalt Gargas unterbrochen, zum anderen geht sie danach sofort in die Brüche: „JANE: […] Es ist nicht richtig zwischen uns, das weißt du. Ich gehe jetzt, George. […]“ (S. 84). Shlink gelingt es dagegen, wieder seine enge Beziehung zu Garga aufzunehmen. Bis zuletzt bleibt Gargas Abwehrhaltung gegen sein eigenes Begehren der zentrale Konflikt zwischen den beiden Männern. Als Shlink ihm erstmals explizit seine Liebe gesteht, stößt Garga ihn von sich: „SHLINK: Verleugne nicht, was war, Garga! Sieh nicht nur die Rechnung. Erinnere dich der Frage, die wir stellten. Nimm dich zusammen: ich liebe dich. GARGA (betrachtet ihn): Aber wie widerlich von Ihnen! […]“ (S. 86). Garga verlässt Shlink daraufhin ein zweites Mal. Shlink begeht Suizid, Garga flüchtet nach New York. Den Traum vom Familienleben hat er aufgegeben, er idealisiert stattdessen nun die Einsamkeit: „GARGA […]: Allein sein ist eine gute Sache. Das Chaos ist aufgebraucht […]“ (S. 89).
Ein übergeordnetes Thema des Stücks ist somit die Konfrontation der heteronormativen Ordnung (repräsentiert durch Garga und sein Umfeld) mit queerem Begehren und die daraus resultierende Verleugnung dieses Begehrens. Der Kampf der beiden Männer lässt sich als Kampf Gargas gegen seine eigenen uneingestandenen Neigungen lesen. Queer ist das Stück außerdem insofern, als dass es durchgehend eine Verunsicherung von binären Kategorien wie passiv/aktiv, mächtig/machtlos oder lustvoll/schmerzhaft vornimmt. Trotz Shlinks absoluter Unterwerfung bleibt es vollkommen unklar, wem eigentlich die Machtposition zukommt, und wer sich wem ‚opfert‘. Die simplen Logiken der heteronormativen Ordnung gehen plötzlich nicht mehr auf – so kann sich Garga im Kampf mit Shlink etwa nicht mehr einfach auf das Referenzsystem eines männlichen Machtkampfes mit eindeutigen Zielen und klaren Rollenverteilungen verlassen. Je stärker Garga Shlink erniedrigt und je mehr Lust er aus seiner dominanten Rolle zieht, desto stärker lässt er sich gleichzeitig auf die erotisierte Beziehung ein, und desto mehr Lust beschert er Shlink. Trotz Gargas dominanter Rolle stellt der Kampf daher auch seine geschlechtliche Identität in Frage, was an seiner Selbstbezeichnung als Shlinks „Bräutchen“ (S. 74) und „Witwe“ (ebd.) deutlich wird.
Kurz gesagt wird durch die Erotisierung homosozialer Machtdynamiken in dem Stück die herrschende Geschlechterordnung destabilisiert: gezeigt werden nicht einfach zwei queere Figuren, sondern die grundsätzliche Umdeutbarkeit und innere Widersprüchlichkeit der heteronormativen Ordnung.
Bibliografische Angaben
Erstausgabe
Fassung 1923: Im Dickicht. Typoskript aus dem Elisabeth-Hauptmann-Archiv, Akademie der Künste der DDR, Berlin.
Fassung 1927: Im Dickicht der Städte. Der Kampf zweier Männer in der Riesenstadt Chicago. Schauspiel. Berlin 1927.
Neudrucke
- 1953 im Suhrkamp-Verlag mit weiteren Änderungen Brechts (Erste Stücke, Bd. 1).
- 1968 posthumer Erstdruck der ursprünglichen Fassung in: Im Dickicht der Städte, Erstfassung und Materialen. Hg. v. Gisela E. Bahr. Frankfurt a.M. 1968.
Später noch mehrere weitere Neudrucke
Kritische Ausgabe
Bertolt Brecht: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Stücke 1. Hg. v. Werner Knecht u.a. Berlin u.a. 1989.
Übersetzung
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Literaturrecherche
BDSL-online am 08.04.2024
- Bergmann, Franziska: Strategien der Geschlechterverfremdung. Brecht, ‚Queer Theory‘ und Theater. In: Dies.: Die Möglichkeit, dass alles auch ganz anders sein könnte: Geschlechterverfremdungen in zeitgenössischen Theatertexten. Würzburg 2015.
- Brown, Pamela: Brecht’s Queer Meat. In: Communications of the International Brecht Society 27/1 (1998), S. 56-61.
- Demčišák, Ján: Queer Reading von Brechts Frühwerk. Marburg 2012.
Das Literaturporträt entstand unter studentischer Mitarbeit von Paola Rigi-Luperti (studentische Mitarbeiterin) und Julia Sułkowska (Praktikantin Humboldt Internship Program).