Annemarie Schwarzenbachs ‚Ruth‘ queer gelesen
Annemarie Schwarzenbach wird heute als queere Ikone avant la lettre rezipiert. Sie stammte aus einer wohlhabenden Schweizer Industriellenfamilie, studierte Geschichte in Zürich und Paris und promovierte. Freundschaftlich verbunden war sie nicht nur mit den Geschwistern Erika und Klaus Mann, wovon die erhaltenen Briefe Schwarzenbachs an sie zeugen, sondern auch mit Ruth Landshoff-Yorck, Karl Vollmoeller, Dorothea „Mopsa“ Sternheim, Ella Maillart, Carson McCullers, Marianne Breslauer und vielen anderen. Schwarzenbach wurden zahlreiche Liebschaften, wie z.B. mit Ruth Landshoff-Yorck, nachgesagt, von denen sich jedoch nur wenige nachweisen lassen.
Schwarzenbach war Autorin, Journalistin, Fotografin und bereiste viele Länder, über die sie auch berichtete. So fuhr sie gemeinsam mit Ella Maillart mit dem Auto von Genf über Istanbul bis nach Kabul. Beide dokumentierten die Reise. Heute faszinieren nicht nur die Bohème-Kreise, denen Schwarzenbach angehörte, und die zahlreichen Fotos, die Schwarzenbach mit ihren Freund*innen auf Reisen zeigen, sondern auch ihre literarischen Arbeiten, die von einem Gefühl des Verlorenseins, des Nichtdazugehörens und des Außenseitertums zeugen.
Bild: Annemarie Schwarzenbach, fotografiert von Anita Forrer, Malans, Schweiz, 1938. Helvetica Archives CC BY-SA 3.0.
Annemarie Schwarzenbachs Prosastück Ruth, die 1932 im Amalthea Almanach erschien, wurde bislang nur selten analysiert. Der Prosatext ist in drei Teile gegliedert und weist eine Nähe zu lyrischen Darstellungsweisen auf. Eine geschlechtlich unmarkierte Erzählinstanz wendet sich an ein Du, das das Ich an die biblische Ruth erinnert. Mit dem Namen Ruth verbindet das Ich „Wildheit“, „Frömmigkeit“ und „eine große Strenge“. Zunächst ist die unbestimmte Sehnsucht des Ich matt und hoffnungslos; doch dann weckt der Name Ruth im Ich „Frömmigkeit und Leidenschaft“, weshalb das Ich die Sehnsucht fortan Ruth nennt. Der kurze Text evoziert eine Sehnsucht, deren Objekt zwischen der biblischen Ruth und einer anderen Frau changiert und die von einer Affinität zum Fremden und Anderen geprägt ist. Diese Vieldeutigkeit macht den Text für eine queere Lektüre besonders fruchtbar.
Die queere Beispiellektüre zu Schwarzenbachs Prosastück bietet fünf verschiedene Zugänge:
Eine kontextsensitive Lektüre, die den Freundeskreis (Erika Mann, Klaus Mann, Ruth Landshoff-Yorck etc.) sowie die familiären Verhältnisse der Autorin berücksichtigt und die Realitätseinschübe in den fiktionalen Text untersucht.
Eine textstrukturelle Lektüre, die die diegetische Ebene und die textuelle Ebene untersucht und besonderes Augenmerk auf die geschlechtlich unmarkierte Erzählinstanz als Mittel einer queeren Erzählstrategie legt.
Eine intertextuelle Lektüre, die sich mit der Darstellung und Adaption der biblischen Figur Ruth auseinandersetzt und ihr queeres Potential in Anlehnung an feministische Bibellektüren analysiert.
Eine raumsemantische Lektüre, die sich mit wiederkehrenden Motiven wie der Wüste und dem Wald, die einander kontrastiv gegenübergestellt werden, beschäftigt. Der Wald wird dem Ich (der Erzählinstanz) zugeordnet, die Wüste dem Du (der Figur Ruth). Ein verbindendes Element wird über die gemeinsame Außenseiterposition hergestellt, die queeres Potential aufweist.
Eine rezeptionsgeschichtliche Lektüre, die den Text in das Gesamtwerk Annemarie Schwarzenbachs einordnet und zu Schwarzenbachs posthum erschienenem Text Eine Frau zu sehen (2008) in Beziehung setzt.