Teilprojekte
Das Projekt entwickelt am Beispiel der im Zeitalter des Paragrafen 175 (1872–1994) entstandenen deutschen Literatur eine übergreifende Methodologie heteronormativitätskritischer Lektüreverfahren.
Ausgehend von den Revisionen, denen der Paragraf 175 unterzogen wurde, untersuchen wir drei Teilepochen:
Die erste Fassung des Paragraphen 175 galt von 1872 bis 1935, also im Deutschen Reich, in der Weimarer Republik und in den ersten Jahren des Nationalsozialismus.
Das Teilprojekt von Janin Afken setzt einen Schwerpunkt auf die verschiedenen Darstellungsmöglichkeiten der Frauenliebe in Kaiserzeit und Weimarer Republik. Der Paragraf 175 beschränkte sich auf männliche Homosexualität, doch gerieten im Zuge der sexualpathologischen Diskurse des 19. Jahrhunderts auch Frauenfreundschaften in den Verdacht, das heterosexuelle Familienmodell zu untergraben. Zuvor wurde Freundschaften zwischen Frauen wenig Beachtung beigemessen, da sie nicht mit Sexualität oder Begehren, sondern mit den weiblich konnotierten Wesensmerkmalen von Emotionalität und Zugewandtheit assoziiert wurden. Frauenrechtlerinnen wurden von antifeministischer Seite als männlich-viril und sexuell deviant diffamiert. Ein enges Spannungsverhältnis zwischen Emanzipation und Heteronormativität sowie Frauenbewegung und Homosexualität bestand entsprechend schon im späten 19. Jahrhundert.
Anhand nicht-kanonisierter Texte wie Aimée Ducs Sind es Frauen? Roman über das Dritte Geschlecht (1901), Ilse Frapans Novellenband Bittersüß (1891) und Wir Frauen haben kein Vaterland. Monologe einer Fledermaus (1899) sowie Leonie Meyerhofs Töchter der Zeit (1903) sollen Subjektwerdungsansprüche, Reflexionen der Geschlechterrollen, alternative Lebenskonzepte jenseits des heterosexuellen Familienmodells und Abgrenzungen zu sexualwissenschaftlichen Diskursen untersucht werden. Ein Fokus liegt auf den Motiven, Darstellungsmodi und Chiffrierungen der tabuisierten Frauenliebe. Die homosexuelle Sub- und Zeitschriftenkultur der Weimarer Republik eröffnete einen Kommunikationsraum, in dem unmittelbarer von der Liebe und dem Begehren zwischen Frauen erzählt werden konnte. Einschlägige Texte waren dennoch nicht frei von Chiffrierungen, da die Veröffentlichungen weiterhin von Zensur bedroht waren.
Im Mittelpunkt der Analyse stehen außerdem Maximiliane Ackers’ Freundinnen (1923), Anna Elisabeth Weirauchs Trilogie Der Skorpion (1919, 1921, 1931), Grete von Urbanitzkys Der wilde Garten (1927) sowie Margaret Goldsmiths Patience geht vorüber (1931). Auch in der populären Literatur jenseits der lesbischen Subkultur wurde weibliche Homosexualität verhandelt. Insbesondere der Film Mädchen in Uniform (1931, 1933) nach dem Drama Gestern und Heute (1930) von Christa Winsloe erlangte internationale Bekanntheit. Auch populäre Romane von Vicki Baum und Irmgard Keun werden in die Untersuchung einbezogen.
Die zweite Fassung des Paragraphen galt von 1935 bis 1968 (DDR) bzw. 1969 (BRD), also im Nationalsozialismus sowie in den ersten zwei Nachkriegsjahrzehnten in Ost- und Westdeutschland.
Das Teilprojekt von Liesa Hellmann untersucht Kontinuitäten und Transformationen im Erzählen von nicht-heteronormativer Sexualität zwischen 1933 und 1968/69. Auch wenn sich die Lebenssituation queerer Menschen in den deutschen Nachkriegsstaaten anders darstellte als während der NS-Zeit, wurden die im Nationalsozialismus verschärfte Fassung des Paragraphen 175 in DDR und BRD weitgehend übernommen. So wirkt die NS-Zeit auf unterschiedliche Weisen auch in die Texte der Nachkriegszeit hinein: Eva Siewert blickt in ihren Erzählungen Das Orakel (1946) und Das Boot Pan (1948) auf die Jahre der Verfolgung zurück, während Wolfgang Koeppen im Roman Tod in Rom (1954) die Lebenswege von Nationalsozialisten nach 1945 in Italien erzählt. Bertolt Brechts Prosawerk Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar erschien zwar in mehreren Teilen 1949 und 1957, wurde aber bereits in den Jahren 1938 und 1939 verfasst.
Ein weiteres Beispiel ist das Stereotyp des homosexuellen Verräters. Es war bereits während der NS-Diktatur Element der nationalsozialistischen Propaganda war, etwa in Ludwig Renns Vor großen Wandlungen (1936), und wurde in der Nachkriegszeit in die Figur des homosexuellen Nazis transformiert (vgl. Schregel 2017). Sowohl in der BRD als auch in der DDR wurde die Figur des ‚Homosexuellen‘ mit der homophoben Vorstellung eines Zusammenhangs zwischen „Homosexualität, Cliquenbildung und Verrat“ (Schwartz 2019, 209) assoziiert, was die Figur unweigerlich mit politischer Opposition verband.
Während der verbreitete homophobe Diskurs in Westdeutschland der Homosexualität eine vermeintliche Nähe zum Kommunismus zuschrieb, galt sie in der frühen DDR umgekehrt als kapitalistisches Laster und Bedrohung des Kommunismus. Da Homosexualität auch in Ludwig Renns in der DDR veröffentlichen Schriften durchaus an der Textoberfläche erzählt wird, ist sein Gesamtwerk auch in dieser Hinsicht für das Projekt von besonderem Interesse. Joseph Breitbachs Bericht über Bruno (1961) und Ingeborg Bachmanns Schritt nach Gomorrha (1961) nehmen direkten Bezug auf die gesellschaftlichen Geschlechter- und Moralvorstellungen im Westdeutschland der frühen 1960er-Jahre.
Die dritte Fassung des Paragraphen galt von 1968 bis 1989 in der DDR und von 1969 bis 1994 in der BRD bzw. im wiedervereinten Deutschland.
Das Teilprojekt von Andreas Kraß untersucht die um 1990 Erscheinung tretende HIV/Aids-Literatur. Im Mittelpunkt stehen die Erzählungen Schweine müssen nackt sein. Ein Leben mit dem Tod (1991) von Napoleon Seyfarth, Es ist spät ich kann nicht atmen. Ein nächtlicher Bericht (1992) von Mario Wirz und Veränderungen über einen Deutschen. Ein fremdes Gefühl von Irene Dische (1993). Während die Bücher von Seyfarth und Wirz autobiografisch geprägt sind, aber stets auch auf den Kanon der deutschen Literatur anspielen, ist Disches Roman fiktional und verwendet HIV/Aids als beigeordnetes literarisches Motiv. Mit der Aids-Krise verdoppelte sich die Problemlage der deutschen Literatur im Zeitalter des Paragrafen 175. Zum Tabu der Homosexualität, das sich seit den 1970er-Jahren zu lockern begann, trat nun das neue Tabu der HIV-Infektion hinzu und erforderte neue Schreibweisen, die nicht nur auf Sexualität und Begehren, sondern auch auf Krankheit und Tod zielten.
Einige Autor:innen dieser Zeit befinden sich derzeit in einem Kanonisierungsprozess, wie sich am Beispiel des homosexuellen, 1991 an den Folgen von Aids verstorbenen Schriftstellers Roland M. Schernikau (Kleinstadtnovelle, 1980; Legende, 1991) aufzeigen lässt, dessen Archiv seit 2016 in der Berliner Akademie der Künste zugänglich ist. Ein weiteres Beispiel ist Hubert Fichte, ebenfalls ein homosexueller, an Aids verstorbener Autor, der in seinem Romanwerk (Geschichte der Empfindsamkeit, 1987–1993) queere mit postkolonialen Perspektiven verschränkte und literaturwissenschaftlich intensiv erforscht wird.
Ferner werden Forschungsergebnisse der Dissertation von Janin Afken zu Irmtraud Morgners Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz (1974) und Maxie Wanders Guten Morgen, Du Schöne (1977) berücksichtigt, die als Anfänge der lesbischen Literatur in der DDR zählen können.
Die erste Fassung des Paragraphen 175 galt von 1872 bis 1935, also im Deutschen Reich, in der Weimarer Republik und in den ersten Jahren des Nationalsozialismus.
Das Teilprojekt von Janin Afken setzt einen Schwerpunkt auf die verschiedenen Darstellungsmöglichkeiten der Frauenliebe in Kaiserzeit und Weimarer Republik. Der Paragraf 175 beschränkte sich auf männliche Homosexualität, doch gerieten im Zuge der sexualpathologischen Diskurse des 19. Jahrhunderts auch Frauenfreundschaften in den Verdacht, das heterosexuelle Familienmodell zu untergraben. Zuvor wurde Freundschaften zwischen Frauen wenig Beachtung beigemessen, da sie nicht mit Sexualität oder Begehren, sondern mit den weiblich konnotierten Wesensmerkmalen von Emotionalität und Zugewandtheit assoziiert wurden. Frauenrechtlerinnen wurden von antifeministischer Seite als männlich-viril und sexuell deviant diffamiert. Ein enges Spannungsverhältnis zwischen Emanzipation und Heteronormativität sowie Frauenbewegung und Homosexualität bestand entsprechend schon im späten 19. Jahrhundert.
Anhand nicht-kanonisierter Texte wie Aimée Ducs Sind es Frauen? Roman über das Dritte Geschlecht (1901), Ilse Frapans Novellenband Bittersüß (1891) und Wir Frauen haben kein Vaterland. Monologe einer Fledermaus (1899) sowie Leonie Meyerhofs Töchter der Zeit (1903) sollen Subjektwerdungsansprüche, Reflexionen der Geschlechterrollen, alternative Lebenskonzepte jenseits des heterosexuellen Familienmodells und Abgrenzungen zu sexualwissenschaftlichen Diskursen untersucht werden. Ein Fokus liegt auf den Motiven, Darstellungsmodi und Chiffrierungen der tabuisierten Frauenliebe. Die homosexuelle Sub- und Zeitschriftenkultur der Weimarer Republik eröffnete einen Kommunikationsraum, in dem unmittelbarer von der Liebe und dem Begehren zwischen Frauen erzählt werden konnte. Einschlägige Texte waren dennoch nicht frei von Chiffrierungen, da die Veröffentlichungen weiterhin von Zensur bedroht waren.
Im Mittelpunkt der Analyse stehen außerdem Maximiliane Ackers’ Freundinnen (1923), Anna Elisabeth Weirauchs Trilogie Der Skorpion (1919, 1921, 1931), Grete von Urbanitzkys Der wilde Garten (1927) sowie Margaret Goldsmiths Patience geht vorüber (1931). Auch in der populären Literatur jenseits der lesbischen Subkultur wurde weibliche Homosexualität verhandelt. Insbesondere der Film Mädchen in Uniform (1931, 1933) nach dem Drama Gestern und Heute (1930) von Christa Winsloe erlangte internationale Bekanntheit. Auch populäre Romane von Vicki Baum und Irmgard Keun werden in die Untersuchung einbezogen.
Die zweite Fassung des Paragraphen galt von 1935 bis 1968 (DDR) bzw. 1969 (BRD), also im Nationalsozialismus sowie in den ersten zwei Nachkriegsjahrzehnten in Ost- und Westdeutschland.
Das Teilprojekt von Liesa Hellmann untersucht Kontinuitäten und Transformationen im Erzählen von nicht-heteronormativer Sexualität zwischen 1933 und 1968/69. Auch wenn sich die Lebenssituation queerer Menschen in den deutschen Nachkriegsstaaten anders darstellte als während der NS-Zeit, wurden die im Nationalsozialismus verschärfte Fassung des Paragraphen 175 in DDR und BRD weitgehend übernommen. So wirkt die NS-Zeit auf unterschiedliche Weisen auch in die Texte der Nachkriegszeit hinein: Eva Siewert blickt in ihren Erzählungen Das Orakel (1946) und Das Boot Pan (1948) auf die Jahre der Verfolgung zurück, während Wolfgang Koeppen im Roman Tod in Rom (1954) die Lebenswege von Nationalsozialisten nach 1945 in Italien erzählt. Bertolt Brechts Prosawerk Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar erschien zwar in mehreren Teilen 1949 und 1957, wurde aber bereits in den Jahren 1938 und 1939 verfasst.
Ein weiteres Beispiel ist das Stereotyp des homosexuellen Verräters. Es war bereits während der NS-Diktatur Element der nationalsozialistischen Propaganda war, etwa in Ludwig Renns Vor großen Wandlungen (1936), und wurde in der Nachkriegszeit in die Figur des homosexuellen Nazis transformiert (vgl. Schregel 2017). Sowohl in der BRD als auch in der DDR wurde die Figur des ‚Homosexuellen‘ mit der homophoben Vorstellung eines Zusammenhangs zwischen „Homosexualität, Cliquenbildung und Verrat“ (Schwartz 2019, 209) assoziiert, was die Figur unweigerlich mit politischer Opposition verband.
Während der verbreitete homophobe Diskurs in Westdeutschland der Homosexualität eine vermeintliche Nähe zum Kommunismus zuschrieb, galt sie in der frühen DDR umgekehrt als kapitalistisches Laster und Bedrohung des Kommunismus. Da Homosexualität auch in Ludwig Renns in der DDR veröffentlichen Schriften durchaus an der Textoberfläche erzählt wird, ist sein Gesamtwerk auch in dieser Hinsicht für das Projekt von besonderem Interesse. Joseph Breitbachs Bericht über Bruno (1961) und Ingeborg Bachmanns Schritt nach Gomorrha (1961) nehmen direkten Bezug auf die gesellschaftlichen Geschlechter- und Moralvorstellungen im Westdeutschland der frühen 1960er-Jahre.
Die dritte Fassung des Paragraphen galt von 1968 bis 1989 in der DDR und von 1969 bis 1994 in der BRD bzw. im wiedervereinten Deutschland.
Einige Autor:innen dieser Zeit befinden sich derzeit in einem Kanonisierungsprozess, wie sich am Beispiel des homosexuellen, 1991 an den Folgen von Aids verstorbenen Schriftstellers Roland M. Schernikau (Kleinstadtnovelle, 1980; Legende, 1991) aufzeigen lässt, dessen Archiv seit 2016 in der Berliner Akademie der Künste zugänglich ist. Ein weiteres Beispiel ist Hubert Fichte, ebenfalls ein homosexueller, an Aids verstorbener Autor, der in seinem Romanwerk (Geschichte der Empfindsamkeit, 1987–1993) queere mit postkolonialen Perspektiven verschränkte und literaturwissenschaftlich intensiv erforscht wird.
Das Teilprojekt von Andreas Kraß untersucht die um 1990 Erscheinung tretende HIV/Aids-Literatur. Im Mittelpunkt stehen die Erzählungen Schweine müssen nackt sein. Ein Leben mit dem Tod (1991) von Napoleon Seyfarth, Es ist spät ich kann nicht atmen. Ein nächtlicher Bericht (1992) von Mario Wirz und Veränderungen über einen Deutschen. Ein fremdes Gefühl von Irene Dische (1993). Während die Bücher von Seyfarth und Wirz autobiografisch geprägt sind, aber stets auch auf den Kanon der deutschen Literatur anspielen, ist Disches Roman fiktional und verwendet HIV/Aids als beigeordnetes literarisches Motiv. Mit der Aids-Krise verdoppelte sich die Problemlage der deutschen Literatur im Zeitalter des Paragrafen 175. Zum Tabu der Homosexualität, das sich seit den 1970er-Jahren zu lockern begann, trat nun das neue Tabu der HIV-Infektion hinzu und erforderte neue Schreibweisen, die nicht nur auf Sexualität und Begehren, sondern auch auf Krankheit und Tod zielten.